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3 Usenet

ähnliche Prozesse wie das Aufeinanderfolgen der Anwendung Email und der resultierenden Praxis der Mailinglisten brachte das Usenet 1979 mit sich. Das Usenet war konzipiert als ein thematisch geordnetes elektronisches Schwarzes Brett, an welches alle User Anfragen, Kommentare und Antworten posten konnte. Das Wachstum war nach anfänglichem zögerlichen Anstieg explosiv, 1985 waren 1300 Rechner angeschlossen mit einem Datenaufkommen von einem Megabyte täglich, 1997 gab es über 15000 Newsgroups, mit einem Datenaufkommen von einem Gigabyte pro Tag. Waren sie zu Beginn tatsächlich ein ,Newsdienst' für das Netz, mit einem Datenaufkommen, welches es allen Mitlesenden erlaubte, die tagesaktuellen Nachrichten auch tatsächlich und komplett zu lesen, wurde dies nach dem explosiven Anstieg der verschiedenen Interessensgruppen als auch der anfallenden Postings schon bald nicht mehr möglich.

Zu Beginn wurden zwei Hierarchien eingeführt, net.* für Newsgroups, die nicht nur mit dem Netz zu tun hatten, sondern auch ohne jede Moderation allen ungehindert die Möglichkeit zum Posten gaben; mod.* für moderierte Newsgroups, in denen Postings erst von einem Moderator genehmigt werden mussten, bevor sie an die Öffentlichkeit gelangten. Nachdem es nicht möglich war, nicht-netzbezogene Themen aus den Newsgroups herauszuhalten, wurden 1986 nach erbitterten Auseinandersetzungen weitere Hierarchien für verschiedene Themenfelder und Sorten von Newsgroups eingeführt. Seitdem existieren die grundlegenden Gruppen sci. für Wissenschaft, soc. für gesellschaftliche Themen, rec. für Freizeitgestaltung, comp., news. und noch länderspezifische Gruppen mit Startkürzeln ähnlich der Länderdomains; de.comp ist beispielsweise die deutschsprachige Abteilung für computerbezogene Gruppen.

In diesen "`offiziellen"' Gruppen wird gewöhnlich per Abstimmung und Mehrheitsentscheid eine neue Unterabteilung gegründet. Der erst nach dem Aufkommen der E-Mail gewonnenen Erkenntnis, dass auch über nicht direkt netz- oder forschungsbezogene Themen kommuniziert wird, sobald es die entsprechende Möglichkeit gibt, wurde so Rechnung getragen.

Sehr bald fand auch in der Usenetgeschichte der Ausbruch aus kontrollierbaren, regulierten Strukturen statt. Während der private Gebrauch der Email jedoch strukturell nichts änderte (die Netzinfrastruktur, mittels der die Privatmail verschickt wurde, unterschied sich in nichts von der, mit der die ,dienstlichen' Mails verschickt wurden), wurde im Usenet aber die Organisation der Newsgroups selber umstrukturiert, um die Kommunikation über private Themen besser handhabbar zu machen. Mit der alt. (für Alternatives) wurde 1988 in einem umstrittenen Alleingang ein Bereich des Usenet geschaffen, in dem beliebig Unterhierarchien geschaffen werden konnten. Dies geschah,

"`... nachdem sich der angesehene und einflussreiche Netz-Guru Gene Spafford aus Anstandsgründen geweigert hatte, in den "`seriösen"' Hierarchien die Gruppen soc.sex und soc.drugs einzurichten. In einem berühmten Posting hatte der von Musch "`Usenetrebell"' genannte Brian Reid 1988 deshalb die Gründung der ersten drei Gruppen seiner anarchistischen Hierarchie verkündet: `To end the suspense, i just created alt.sex. That meant that the alt-network now carried alt.sex and alt.drugs. It was therefor artistically necessary to create alt.rock-n-roll, which i have also done.' Obwohl die alt-Hierarchie bis heute kein offizieller Teil des Usenet ist, führen fast alle Usenetserver auch diese Gruppen."'27

Diese beiden Ereignisse stellen, jedes auf seine Art, Trendwenden dar: das Netz wurde von einem Medium zur Distribution von Rechenzeit (mit nach und nach angegliederter, thematisch beschränkter Kommunikation) zu einem Sozialraum, zu dessen Weiterentwicklung nicht mehr allein Kriterien der technischen Machbarkeit angelegt wurden, sondern auch solche der sozialen Erwünschtheit eine Rolle spielten. Die Frage, ob in einem Netzwerk von Rechnern, welches ursprünglich zur akademischen und militärischen Forschung eingerichtet wurde, auch über Sex diskutiert werden soll, ist keine Fragestellung, auf welche die Technik oder der Techniker als solcher noch eine Antwort zu geben vermag.

Damit wurde das Usenet von einem technischen zu einem sozialen Forum, mit allen Implikationen, die die Themenöffnung mit sich brachte. Eine (Selbst-)Kontrolle der Inhalte konnte nicht mehr entlang relativ klarer Kriterien der Wissenschaftlichkeit, dem Bezogensein auf technische und administrative Themen etc. erfolgen, sondern fand seine Grenzen in dem, was gesellschaftlich als akzeptiert oder zumindest kommunizierbar galt. Die Maßstäbe waren dabei aber weiterhin weit und offen gesteckt und das Vertrauen in eine Selbstregulierung auf höherer Ebene war ungebrochen.

Illustrierend soll das Beispiel der Flamewars im Usenet angeführt werden. Es war (und ist) im Usenet zum Ärger der meisten TeilnehmerInnen alltäglich, dass verschiedene Personen, aus welchen Gründen auch immer, begannen, sich hemmungslos zu beschimpfen. Die Anlässe sind dabei meist egal, häufige Gründe sind sexuelle Präferenzen, unterschiedliche politische Ansichten oder das jeweils bevorzugte Betriebssystem.28 Diese Grabenkämpfe wurden "`Flames"' genannt, bei entsprechendem Ausmaß auch "`Flamewar"'. Die logische Konsequenz war die Schaffung eines separaten Diskussionskanals alt.flame, in dem diese Streitereien ausgetragen werden konnten, ohne dass die anderen NutzerInnen belästigt wurden. Interessanterweise funktionieren und funktionierten solche Maßnahmen der Kommunikationsregulierung teilweise immer noch. Inzwischen sind zwar in vielen Bereichen Löschungen und Verschiebungen von Beiträgen an der Tagesordnung, doch es gibt viele Bereiche, in denen eine explizit lösch- und zensurfreie Debatte erfolgreich kultiviert wird.29


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Richard Joos; 6. Februar 2002