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4 Sündenfälle im Netz-Abkehr vom ,rough consensus and running code'

Solche Systeme der Selbstregulierung können nur bis zu einer bedingten Größe einer Gruppe ohne hierarchische Herrschaftsstrukturen und die Möglichkeiten zur Sanktion der Handlungen von Störern funktionieren. Exemplarisch möchte ich einen Fall vorstellen, der interessanterweise sowohl von Lessig30 als auch von Sherry Turkle31, zweien der bekanntesten Netztheoretiker und Insider der frühen Jahre des Internets ausführlich und beispielhaft geschildert wird.

Der Vorfall, der von beiden als bedeutsam und Indiz für einen Paradigmenwechsel im Netz eingestuft wurde, trug sich Anfang der Neunziger im LamdaMOO zu. Ein MOO ist eine Art MUD, ein Multi-User-Dungeon. Meist handelt es sich nicht um ,Kerkersysteme', wie es der Name nahe legt, sondern um oftmals sehr liebevoll und detailreich durchgestaltete virtuelle Welten auf Textbasis, in denen sich je nach Leistungsfähigkeit der Server mehrere bis viele UserInnen gleichzeitig aufhalten können. Ein MOO ist ein ,Mud Object-Orientated', was heißen will, dass in ihm Objekte konstruiert und gehandhabt werden können. Je nach ,Rang' eines Nutzers kann er vorhandene Gegenstände verwenden, manipulieren, neue erschaffen usw., wobei man sich darunter nicht nur Alltagsgegenstände vorstellen darf, sondern durchaus auch Räume, Einrichtungen, Gebäude oder Landstriche.

Im LamdaMOO hatte ein Nutzer eine Methode gefunden, mittels derer er Handlungen anderer Personen so darstellen konnte, als ob es ihre eigenen wären. Diese Fähigkeit nutzte er dazu, Sex mit zwei weiblichen Charakteren des MOO vorzutäuschen. Dass dies ohne die Einwilligung der beiden Opfer geschah, konnten sich die Personen denken, welche die beiden schon länger kannten, aber am Bildschirm war der Vorgang von einer einvernehmlichen Interaktion nicht zu unterscheiden.

Die Resonanz dieses Vorfalls war groß, einerseits stellte sich die Frage, "`was"' jetzt überhaupt passiert sei, und ob man auf dieser Abstraktionsebene von Vergewaltigung sprechen könne. Der Jurist Lessig dazu:

"`Yet even if `it' was not `rape', all will see a link between rape and what happened to these Women there. Bungle used his power over these women for his own (and against their) sexual Desire, he sexualised his violence and denied them even the dignity of registering their protest"'.32

Nun kann die Tat als solche wohl schlecht oder verwerflich genannt werden, faktisch wurde jedoch gegen keine ,Regel' (es gab keine) und schon gar nicht gegen ein Gesetz verstoßen. Nichtsdestoweniger war klar, dass mit solchen Taten irgendwie umgegangen werden musste. Während die einen für eine wie auch immer geartete Selbstregulierung waren, neigten die anderen zu einer Demokratisierung, mittels der per Mehrheitsentscheid verbindliche Regeln geschaffen werden sollte.

Letztendlich wurde der Tätercharakter kommentarlos gelöscht, Wahlen wurden einberufen und Regeln definiert. Lessig gibt zu diesem "`Demokratisierungsprozess"' folgende Kommentare ab:

"`...LamdaMOOs move to self-government, through structures of Democracy, was not just an achievement. It was also a defeat. The space had failed. It had failed, we could say, to self-regulate.[...] The debate marked the passage of the space from one kind of place to another. From a space self-regulated to a space regulated by self."'33

Das Netz hatte aufgehört, ein Sozialraum zu sein, in dem ohne repressive Maßnahmen eine Koexistenz möglich war. Die ,Demokratisierung' ist hier der Beweis eines Scheiterns, nicht der einer positiven Entwicklung.

ähnlich sind andere Prozesse zu bewerten, die Regeln schaffen und durchsetzen: die Cancelbots, die im Usenet irgendwann dazu eingesetzt wurden, Massenpostings automatisch zu löschen,34 der immer üblichere Einsatz von Bots* auf IRC*-Servern, die automatisch auf Floodattacken oder hate speech reagieren usw.35 Das Netz hat keinen Raum geschaffen, der durch seine Grenzenlosigkeit und dem potentiell unendlichen Facettenreichtum für alle und jeden eine Nische zur Verfügung stellt, in dem man sich frei von Repression oder Kontrolle entfalten kann, sondern schlicht eine Parallelwelt, die sich von Sozialkontakten im ,Real Life'36 nur dadurch unterscheidet, dass direkte physische Interaktion (und implizit physische Belästigung, Gewaltausübung etc.) nicht stattfindet, sondern höchstens indirekte Entsprechungen hat (psychische Gewalt, Kontrolle über Nettiquette und Zugangsbeschränkungen, evtl. mittelbar über Beschädigung des benutzten Rechners mittels diverser Attacken, seien es nun Viren oder Hackangriffe). Ebenso wenig ist es inzwischen der Fall, dass zumindest die ,Gesetzgebung', die solches Missverhalten definiert und sanktioniert ein genuiner, nur im Netz - und dort umfassend - gültiger Verhaltenskodex ist37, sondern letztendlich trat an die Stelle der lokalen Selbstverwaltung einzelner Cyber-Communities ein Gemenge von Selbstreglementierung, technisch realisierten Verboten und Möglichkeiten zuzüglich der bedingten Anwendbarkeit des Landesrechts des Rechnerstandorts und/oder des Ortes, von dem aus die zu sanktionierende Aktion ausging.


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Richard Joos; 6. Februar 2002