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3 Durchsetzungsphase: Das Netz als Alltagsmedium

Dadurch, dass das Netz Mitte der Neunziger den qualitativen Sprung zu einem neuen Massenmedium schaffte, wurden die Fragen, wie es funktionieren sollte, neu gestellt. Seitdem das Netz prinzipiell alle anging, wurde es mit mehr und mehr Missfallen betrachtet, dass ein kleiner Zirkel von vordergründig offenbar nur sich selber verpflichteten Technokraten nach Gutdünken die Geschicke des Netzes leiteten.

In den folgenden Debatten und Machtkämpfen ging es um mehrere übergeordnete Fragestellungen. Erstens musste dem Bedarf an rechtlichen und protokollarischen Regulierungen auf der Ebene der Technik begegnet werden. Dazu musste ein gewisses Maß an Richtlinienkompetenz in die Hände entsprechend legitimierter, besetzter und akzeptierter Gremien gelegt werden. Kommunikationskanäle, die globale Bedeutung erlangt haben, sollten kein Spielball einiger weniger Industrieunternehmen werden. Das Netz muss sein eigenes Substrat pflegen, steuern und regulieren können, ohne dass es von wenigen prägenden, im Eigeninteresse die Protokolle entsprechend definierenden Unternehmen instrumentalisiert und vereinnahmt wird. Da das Internet auch zum Gegenstand nationalstaatlicher Politik wurde, versuchten die verschiedenen Gremien des Internet, staatliche Einflüsse nach Möglichkeit abzuwehren, mit mehr oder weniger großem Erfolg.

Zweitens wurde nicht nur das Internet Gegenstand des Real Life, auch andersherum wurde das Netz zum Medium, welches sich von der bevorzugten Beschäftigung mit sich selbst hin zur Öffnung gegenüber Kommunikationen und Inhalten der anderen Medien entwickelte. Wie weit Gesetze und Regeln, die im ,Real Life' gelten, auch auf das Netz übertragen Geltung besitzen, wie diese Rechte durchgesetzt werden etc., musste ausgehandelt werden. Hier fand ein Wandel statt; eine Entwicklung weg von dem Geist, den noch die bereits zitierte ,Unabhängigkeitserklärung' John Perry Barlows erfüllte hin zu einer Einmischung von Regierungen und Judikative und den sich anschließenden Fragen zur Anwendung nationalen und internationalen Rechts im an sich ortlosen Internet und der Schaffung legitimierter, geeigneter Institutionen, die diese Grundsätze umsetzen können. Das Netz ist Gegenstand der Öffentlichkeit und maßgebliches Element der Lebenswelt großer Kreise der Bevölkerung geworden. Differenzen zwischen nationalem Recht und dem, was im Netz beobachtbar wird, sind kein Phänomen mehr, welches eine kleine, gesellschaftlich irrelevante Gruppe betrifft, sondern sie haben das Potential, die Souveränität des betroffenen Staats in Frage zu stellen.

Drittens und letztens wird das Netz zum Raum, der ebenso wie der öffentliche Raum von bestimmten Wertvorstellungen und Interessen geprägt sein kann, eine dominante Kultur, geduldete und störende Inhalte entwickeln kann. Wenn es für bestimmte Gruppen möglich wird, größeren Einfluss zu gewinnen, können sie den Charakter des Internet zu ihren Gunsten beeinflussen. Dieser Prozess hat bereits stattgefunden, die Rede ist von der Kommerzialisierung des Internet. Sie zeigt sich weniger mit der allgegenwärtige Bannerwerbung, sondern in den Veränderungen und den neugeschaffene Kontrollinstanzen in der strukturellen Beschaffenheit des Internet - das erfolgreiche Durchsetzen von Copyright- und Markenschutz bei gleichzeitiger Aushebelung von Datenschutzbestimmungen; dem Errichten elektronischer globaler Marktplätze zur Zuliefererknebelung bei gleichzeitigem Abschmettern einer Top-Level-Domain.union für Gewerkschaften oder bei der verbreiteten Praxis amerikanischer Firmen, die Weiterleitung von Gewerkschaftsmails an ihre MitarbeiterInnen zu unterbinden; den Rufen nach staatlicher Zensur und staatlichem Schutz vor Hackerangriffen und gleichzeitigem Beharren auf der freiwilligen Selbstkontrolle und der unsichtbaren Hand des Marktes als Regelmechanismen in Bezug auf die Frage, wie viel Datenschutz der Kunde wünscht usw. Die gängige Praxis der Wirtschaftsunternehmen, ihre Märkte auszuweiten und dabei entstehende Kosten nach Möglichkeit zu externalisieren, wird mit der Zuweisung von Sicherheits- und Kontrollaufgaben an staatliche Organisationen fortgesetzt. Die ständig anwachsende allgegenwärtige Dominanz der Kapitaleigner in den Entscheidungsgremien des Netzes prägt nachhaltig seine Struktur und seine Erscheinung.



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Richard Joos; 6. Februar 2002