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Einleitung

[0]Gewiss, angenehm ist es, das Telefon zu haben, aber sind wir im Ganzen genommen glücklicher durch das Telefonieren geworden?KURT SCHWITTERS, PERSONENZUG 1922

Es gibt nur wenige Teilbereiche der Gesellschaft, für die Auswirkungen und Veränderungen durch das Internet nicht kontrovers diskutiert worden sind. Dabei stellt sich meist nicht die Frage, ob das Internet irgendwelche einschneidenden Veränderungen zeitigen würde, sondern allenfalls, welcher Art diese seien und wie man sich darauf am besten einstellen könne. Ob nun das Arbeitsleben oder der Handel, ob es um Schule und Ausbildung geht oder um Politik und Demokratisierung, überall ist das Internet entweder ein Hoffnungsträger, welches neue Effizienzschübe, mehr Lebensqualität, demokratischere Strukturen etc. schaffen soll oder eine Gefahr, die bestehende Strukturen, Machtverhältnisse und Verhaltensformen in Frage stellt. Auch nachdem der Neue Markt zusammengebrochen ist, werden die zu erwartenden Auswirkungen des Internet nicht etwa relativiert, sondern allenfalls in ihrem Eintreffen zeitlich weiter hinausgeschoben; oder die Schwerpunkte werden verlagert: nicht der Handel zum Endkunden, sondern Business-to-Business-Marktplätze im Netz sollen Produktionsprozesse effizienter und den Wettbewerb durchsichtiger machen; nicht die Freiheit überall einzukaufen wird den Privatbereich revolutionieren, sondern die Allverfügbarkeit von Rechnerleistung und Kommunikationsinfrastruktur, wie wir es von Strom und Licht bereits gewöhnt sind. Kinder und Jugendliche werden durch steigende Medienkompetenz für die "`Wissensgesellschaft"' fit gemacht, SeniorInnen finden mit dem Internet neue Wege aus Isolation und Einsamkeit im Alter. Zumindest in den Industrieländern kennt das Internet nur Gewinner, wenn man von den pleitegegangenen Dotcoms absieht. Dementsprechend groß ist der Druck, die Menschen ins Netz zu bewegen, dementsprechend konsequent spricht man auch weniger von ,Menschen ohne Netzzugang', sondern von ,Internetverweigerern'. Diese zugrundeliegenden Betrachtungen zeigen zumeist die positiven Auswirkungen einer Netzanbindung für Einzelne oder für eine Organisation im Speziellen auf - angesichts dessen, dass das Netz immer zu bereits bestehender Infrastruktur, zu bestehenden Kommunikationskanälen dazukommt und jene nicht etwa einfach ersetzt, kann immer ein Zugewinn an Handlungsoptionen und eine Erweiterung persönlicher Freiheit attestiert werden. Eine negative Bilanz kann von vorneherein ausgeschlossen werden.

Bis auf wenige Ausnahmen ist diesen Ansätzen gemein, dass sie zumeist die direkte Auswirkung des neuen Mediums auf einen gesellschaftlichen Teilbereich beleuchten. Die gestellten Fragen lauten beispielsweise, wie das Internet die Möglichkeiten der Schulausbildung verändert, oder wie mittels Rechnervernetzung der Verwaltungsablauf in einem Amt bürgerfreundlicher und effizienter abgewickelt werden kann, oder wie eine Anbindung ans Internet einem strukturschwachen Land oder einer strukturschwachen Region Entwicklungsimpulse verleihen kann usw.

In der folgenden Arbeit sollen diese Fragen zwar nicht ausgeblendet werden, jedoch sollen sie nur als Folie dienen, auf der die größeren gesellschaftlichen Strukturen dargestellt werden, in die das Netz mit seiner Durchsetzung eingreift. Ihre Relevanz soll dabei nicht in Frage gestellt werden, jedoch sollte klar werden, dass es kein ,Wesen des Internet' gibt, sondern dass auf das Internet wie auf alle anderen Medien auch die Gesellschaftsstruktur abgebildet wird und diese dort wirksam ist.

Einige der einschneidendsten Auswirkungen des Internet gehen nicht direkt von seiner Durchsetzung, von seiner universellen Einsetzung in allen möglichen Lebensbereichen aus, sondern von indirekten Prozessen, die anlässlich der Etablierung des Internet als neuem Universalmedium mit bestimmten Eigenschaften beginnen und ihrerseits die Gesellschaft und ihre Struktur verändern. Das Netz setzt beispielsweise einige Begrenzungen der physischen Welt außer Kraft, sei es die natürliche Begrenzung der Reichweite des Einzelnen bei der Distribution von im weitesten Sinne unerwünschten Inhalten, oder die physischen Beschränkungen durch materielle Knappheit beim Verteilen von Gütern etc. Die Methoden, mit denen diese neuentstandenen Phänomene im Netz begegnet wird, haben auch Auswirkungen auf das Leben außerhalb des Internet, auf Personen, die am Internet keine wie auch immer geartete direkte Beteiligung besitzen. Die Prozesse, die im Internet ablaufen, verändern somit ebenso die Strukturen in den Teilen der Gesellschaft, die mit dem Netz direkt nichts zu tun haben.

So sollen in der Arbeit Strukturen von Macht, Ungleichheit und Kontrolle im Internet und ihrer Wirkungsweise auf Akteure und Exkludierte im Netz aufgezeigt werden. Weiterhin soll dargestellt werden, wie das Netz das Potential zu weitergehender Demokratisierung von Gesellschaft besitzt, andererseits jedoch angesichts der Unmöglichkeit einer neutralen, uninstrumentalisierbaren Technik seinen Beitrag zur Verschärfung bestehender Ungleichheits- und Ausbeutungsstrukturen leistet.

Die verschiedenen Kontroll- und Steuerungsinstanzen des Internet und ihre jeweiligen Legitimationen und Befugnisse sind im Rahmen dieser Arbeit von größerem Interesse als das Aufkommen der verschiedenen Generationen von Protokollen und Diensten. So soll im ersten Teil der Arbeit vor allem aufgezeigt werden, wie sich aus den militärisch-technokratischen Steuerungsinstanzen der Anfangszeit des Internet Institutionen entwickelten, die in der Folge mit handfesten marktwirtschaftlichen Interessengruppen konfrontiert wurden, dementsprechend sich ihre Aufgaben erweiterten und änderten und zu guter Letzt auch ihre Legitimation sich irgendwann nicht mehr auf einen ad hoc gültigen Expertenstatus gründete, sondern auch mehr oder weniger demokratisiert wurde. Am Rande soll auf die erweiterten Entscheidungsbefugnisse der jeweiligen Gremien (exemplarisch hier ICANN, deren Agieren aktuell auch die größte Öffentlichkeitswirkung hat) eingegangen werden. Ihren Entscheidungen kam zu Beginn rein technisch-normative Bedeutung zu, vermehrt werden ihre Regeln nun aber auch auf ökonomischem und sozialem Gebiet wirksam. Genannt seien beispielsweise der Markenschutz bei Domainnamen und die künstliche Verknappung des Domainnamensraums.

Im zweiten Teil der Arbeit soll dargestellt werden, wie gängige Ansätze der Techniksoziologie auf das Internet übertragbar und anwendbar sind. Kernthese ist, dass das Netz strukturell keinen wie auch immer gearteten Quantensprung der Technikentwicklung darstellt, sondern - wie fast jede andere technische Entwicklung auch - in die Gesellschaftsentwicklung integriert wird, ohne deshalb jedoch grundlegende Strukturen und Machtverhältnisse neu zu definieren oder in Frage zu stellen. Weiterhin, dass Technik als solche keine Eigendynamik besitzt, die unabhängig von der gesellschaftlichen Umsetzung ihrer Errungenschaften existiert und funktioniert, sondern dass sie spätestens in der Durchsetzung ihrer Erkenntnisse den Erfordernissen und der Verwertungslogik bestehender Herrschaftsverhältnissen unterworfen wird. Anstelle dieser Eigendynamik von Technik existiert nur eine selektive oder zurichtende Adaption ihrer Fortschritte auf die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Dieser Prozess hat auch bei der Durchsetzung des Internet stattgefunden.

Diese Selektion oder Zurichtung macht sich an den im dritten Teil erörterten Begrifflichkeiten von Eigentum und neu geschaffenen bzw. verschärften Ungleichheiten fest. Der Begriff des Eigentums wird dahingehend erörtert, dass er sich im Kontext des Internet verändert, da dieses Knappheiten von beliebig distribuierbaren digitalen Gütern abschafft und die Kontrolle über ihre Besitzförmigkeit nicht mehr gewährleistet ist oder zumindest von technischer Kompetenz abhängig gemacht wird. Physikalische Trivialitäten wie die Unmöglichkeit der gleichzeitigen Verfügungsgewalt von mehreren Personen über dasselbe materielle Gut werden durch die Digitalisierung und die allenfalls die Verbreitungsgeschwindigkeit, nicht jedoch die Verbreitung an sich begrenzenden Distributionskanäle des Internet in Frage gestellt. Diese Kontrolle neuer, erweiterter Begrifflichkeiten von Eigentum findet nicht nur auf der Ebene der Ungleichheiten zwischen den BürgerInnen traditionell privilegierten Staaten zu, zwischen den ein ,Information Gap' wirksam wird, sondern auch zwischen den Gesellschaften, die unterschiedliche Zugriffsarten auf die Möglichkeiten der elektronischen Verwertung von Arbeit und Kapital besitzen. über das Internet hinaus soll betrachtet werden, wie sich das gesteigerte Kontrollbedürfnis und die Mechanismen der künstlichen Schaffung von Knappheit in der Gesellschaft verbreiten.

Im vierten Teil der Arbeit soll dann auf die im Internet bestehenden Strukturen von Macht und Kontrolle näher eingegangen werden. Ausgehend von Foucaults Adaption des Benthamschen Panopticon soll erörtert werden, wie weit das Internet neue Möglichkeiten von Kontrolle und Überwachung erzeugt und wie sie alltagspraktisch umgesetzt werden. Aktuell bereits stattfindende Kontrolle soll ebenso erörtert werden wie technisch denkbare Weiterentwicklungen und die Gegenentwürfe, die diese Mechanismen konterkarieren oder unterlaufen sollen.

In der Schlussbetrachtung soll nochmals dargestellt werden, wie klassische Ungleichheitsstrukturen - zwischen Kapital und Arbeit, G7-Staaten und dritter Welt, Informated-Noninformated, durch das Internet nicht etwa abgebaut werden, sondern weiterhin fortdauern bzw. verschärft werden. Mit dem Netz entstehen neue Möglichkeiten der Effizienzsteigerung der Kapitalverwertung, bzw. werden neue und umfassendere Möglichkeiten dieser Verwertung geschaffen.

Im Folgenden meine ich mit ,Net' oder ,Netz' das Internet in der Gesamtheit seiner Dienste. Mit ,Web' ist das WWW*, das Hypertextsystem auf der Basis von HTML* gemeint, in Abgrenzung zu anderen Diensten wie Email, Chats, ftp*, Telnet usw.

Fachbegriffe und Abkürzungen, die im Stichwortverzeichnis (Kap. 6) nochmals erläutert sind, sind wie im vorigen Absatz mit * gekennzeichnet.

Das Netz ist keine Männerdomäne mehr, ich nutze gelegentlich die politisch korrekte ,-Innen'-Schreibweise, gestehe jedoch, dies nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit getan zu haben. Wenn dadurch nicht vergessen wird, dass, wenn nicht extra gekennzeichnet, in dieser Arbeit bei Personenbezeichnungen die Angehörigen beider Geschlechter gemeint sind, ist der Zweck erfüllt.


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Richard Joos; 6. Februar 2002