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2 Sozialkonstruktivistische Ansätze der Techniksoziologie

Einfachere Ansätze, die ohne die komplexen Ausklammerungen direkter Interaktionen zwischen Gesellschaftssystemen auskommen, sind die verschiedenen monokausalen Techniktheorien, die Rammert kurz als Gegenentwürfe zu sozialkonstruktivistischen Ansätzen vorstellt, die ich aber als einfachere Vorformen des Sozialkonstruktivismus einführen will, da mir die Beschränkung monokausaler Theorien auf unidirektionale Beeinflussung der Technik durch Gesellschaft willkürlich scheint, ebenso die Reduktion des bestimmenden Faktors der jeweiligen Theorie als einzige Ursache und alleine gültige Erklärungsmöglichkeit der Technikgenese. Rammert selbst generiert seine sozialkonstruktivistische Position durch die Kombination von strukturalistisch argumentierenden monokausalen Techniktheorien und den interaktionistischen Ansätzen, nach denen Artefakte sozial konstruiert werden und die gesellschaftliche Bevorzugung gewisser Problemlösungen und Entwicklungen die Fortschrittsrichtung der Technikgenese bestimmt.

Rammert unterscheidet zwischen mehreren monokausalen Ansätzen, die technische Entwicklung auf jeweils einzelne gesellschaftliche Faktoren zurückführen, die ausreichend seien, die technische Entwicklung weitgehend zu erklären. Anthropologisch würde so beispielsweise Gehlen argumentieren, dessen Sicht auf den Menschen als Mängelwesen seinen Begriff von Technologie prägt, die in der Ausbildung ,künstlicher Organe' besteht, welche die Defizite des Menschen neutralisieren.103 Generell würden anthropologische Ansätze jedoch zu wenig Wert auf die Einflüsse der Gesellschaft als solcher jenseits der Körperlichkeit der Menschen legen.

Kulturalistische Ansätze stellen die Prägung der Entwicklung durch Kultur und Religion in den Vordergrund, Rammert fügt hier aber auch feministische Theorien an.

Eng verwandt sind die Ansätze des Marxismus und der Kritischen Theorie. Während die marxistische Theorie vor allem die Kapitalverwertung und die Steigerung der Profitrate als treibende Kraft hinter technischen Fortschritten betrachtet, legt die Kritische Theorie ihren Schwerpunkt auf die Betrachtung von Technikentwicklung unter den Aspekten von Herrschaftssicherung und Herrschaftslegitimierung. Die Gemeinsamkeit der letzteren beiden Ansätze umreißt Rammert knapp mit der maßgeblichen Prägung der

"`...technischen Entwicklung durch eine dominierende Strukturlogik [...], sei es die Logik der Kapitalverwertung, sei es der Imperativ der Herrschaftssicherung oder sei es die Hegemonie einer kulturellen Weltauffassung."'104

Ausführlicher erläutert Habermas die Position des Vordenkers Marcuse folgendermaßen:

"`Marcuse ist überzeugt, dass sich im dem, was Weber Rationalisierung genannt hat, nicht `Rationalität' als solche, sondern im Namen der Rationalität eine bestimmte Form uneingestandener politischer Herrschaft durchsetzt.... Jene Rationalität erstreckt sich überdies nur auf Relationen möglicher technischer Verfügung und verlangt deshalb einen Typ des Handelns, der Herrschaft, sei es über Natur oder Gesellschaft, impliziert."'105

und zitiert ihn darauffolgend mit den Worten

"`Nicht erst ihre Verwendung, sondern schon die Technik ist Herrschaft (über die Natur und über den Menschen), methodische, wissenschaftliche, berechnete und berechnende Herrschaft."'

Die Rationalität, nach der Technik funktioniert, impliziert bereits Herrschaftsstrukturen, einerseits über die Natur, andererseits auch über Menschen.106

Rammert wendet sich explizit gegen diese Reduktion. Damit die Technikgenese beispielsweise auf die Logik ökonomischer Verwertung rückführbar sein könnte, muss es eine Kontrolle der beherrschenden Strukturlogik auf den gesamten Prozess der Technikgenese geben. Jedoch sei die kapitalistische Verwertung am Markt letztendlich nur eine Etappe in Forschung, Entwicklung und schließlich der Vermarktung von Produkten. Die Kriterien für den Erfolg am Markt schlagen nicht unbedingt bis auf die ersten Ebenen der Entstehung neuer Technologien durch, welche beispielsweise durch "`militärische, ästhetische oder politische Orientierungsstandards"'107 geprägt sind. Wenn nun beispielsweise an einem Max-Planck-Institut Grundlagenforschung betrieben wird, ein industrielles Konsortium erste Prototypen einer industriellen Anwendung auf Basis der neuen Technik konstruiert, welche dann in vier Versionen von vier Unternehmen in Lizenz gefertigt werden und sich letztendlich zwei Varianten am Markt durchsetzen, kann nicht mehr von einer durchgängigen Planung entlang einer dominierenden Logik ausgegangen werden.

Daraus folgert Rammert, dass eine Technikgenese, die von einer maßgeblichen, die Entwicklung dominierenden Instanz ausgeht, komplexe soziale Realität zu eindimensional betrachtet. Unterschiedliche Steuerungsinstanzen greifen in jeweils unterschiedlicher Weise auf den Entwicklungsprozess zu. Rammert illustriert:

"`...Da gibt es zunächst einmal einen ,pool' an technischen Ideen, der sich aus verschiedenen Quellen speist, vor allem aber aus dem Forschungshandeln von Erfindern und Wissenschaftlern in unterschiedlichsten Kontexten... Eine sozial interessiertere Selektion erfolgt in einer zweiten Phase, wenn diese Ideen in Forschungs- und Entwicklungsprogrammen staatlicher Forschungsanstalten oder industrieller Laboratorien aufgegriffen und organisiert weiterbehandelt werden... [Die Geschäftsleitung greift] erst recht spät mit Investitionsentscheidungen - und dann nur in den Übergangsphasen - zum Prototyp oder zur Standardfertigung ein [...]"'108

Weingart bemerkt ähnliches, bezogen auf die prägende Gestalt des Erfinders, welche bis zur Neuzeit eine größere Rolle spielte, jetzt aber von komplexen Entwicklungsprozessen abgelöst wird:

"`Historisch spielt der unabhängige Erfinder, oft ein Amateur, eine wichtige Rolle bis zur letzten Jahrhundertwende, und er ist auch heute noch nicht verschwunden. [...] Aus der Perspektive soziologischer Analyse jedoch stellt der Erfinder eine historische Übergangsfigur dar, die der Institutionalisierung der Erfindung als einer organisierten Aktivität vorausgeht. [..] er ist nicht länger der vorherrschende Typ, der das Muster der Innovationsaktivität repräsentiert. [...]Aus diesen Gründen ist der Fokus auf Individuen und ihre Motive sowie die biographischen Umstände ihrer Arbeit - obgleich keineswegs ohne Wert - nur von begrenzter Bedeutung für die Analyse von Entwicklungsmustern und Dynamiken. Für letztere muss man nach sozialen Formationen Ausschau halten."'109

Gesellschaft und Technik durchdringen sich demnach inzwischen in einem Ausmaß, welches eine ,Naturwüchsigkeit' oder ,innere Verlaufslogik' der technischen Entwicklung ausschließt. Technik sei inzwischen als "`ein Stück sozialer Praxis aufzufassen"',110 eine Dichotomisierung von Technik und Gesellschaft ist nicht mehr durchzuhalten, da die gegenseitigen Verflechtungen und Einflussnahmen im Lauf der Technisierung der Gesellschaft massiv zugenommen haben.

Ebenso wenig wird irgend eine Art von Determinismus und der von Einzelinteressen geleiteten Technikentwicklung dem häufig vollkommen irrational funktionierenden Prozess der Technikgenese gerecht. Nach Rammert kann keine Strategie der Profitmaximierung über technische Innovation nachgewiesen werden, vielmehr verfolgen die Unternehmen eher Strategien wie jene der ,Adaption der erstbesten Lösung' oder der Nachahmung. Ebenso weisen sie irrationale Vorlieben für manche Marken, Hersteller und Zulieferer auf. In neue Produktionstechniken muss angesichts der Schnelllebigkeit der Märkte meist schon investiert werden, bevor zuverlässige Daten über ihre Rentabilität vorliegen.111

Ebenso zeige der in der modernen Gesellschaft bereits institutionalisierte Einsatz von Wagniskapital gerade für riskante Unternehmungen das Nichtrelevantsein eines rationalen Kosten-Nutzen-Kalküls für die Forschung. In dieselbe Richtung weist das gelegentliche Bürgen des Staats für Grundlagenforschung und Großprojekten.

Günther Ortmann schildert ausführlich diese grundsätzliche Kontingenz des technischen Fortschritts. Entgegen der Ansicht, technische Entwicklung sei den rationalen Entscheidungen und Weichenstellungen einer oder mehrerer beliebigen sozialen Gruppen geschuldet, führt er als maßgebliche Mechanismen unsteuerbare oder zufällige Faktoren an.

Das Lock-In beschreibt das Feststecken einer Technologie in einem bestimmten Entwicklungspfad, dessen Ausprägung zum Entstehenszeitpunkt Sinn gemacht hat, inzwischen kontraproduktiv wirkt, aber durch große Verbreitung und stattgefundenen hohen finanziellen und/oder sozialen Investitionen (,sunk costs') ein massives Beharrungsvermögen entwickelt hat. Bekanntestes Beispiel dürfte die Anordnung der Schreibmaschinentastatur sein112, die durch ihre unpraktische Anordnung der Buchstaben ein Limit des erreichbaren Schreibtempos setzen sollte, welches das Verhaken der Typen bei den frühen, ungefederten Schreibmaschinen verhindern sollte. Der Grund ist heute vollkommen sinnlos, angesichts der Verbreitung der Tastatur, ihrer verbindlichen Gestaltung, Kursmaterialien etc. ist eine Umstellung faktisch unmöglich.

Kontingenz in diesem Zusammenhang heißt, dass ein eingeschlagener Entwicklungspfad nicht aufgrund plausibel eindeutig feststellbarer Gründe eingeschlagen wird und das Ergebnis nicht unbedingt ein Fortschritt sein muss. Beispielhaft führt Ortmann die Konkurrenz zwischen VHS, Beta und Video 2000 an113, welche ohne technisch nachvollziehbare Gründe zu der Durchsetzung von VHS geführt hat114. Die Ursachen dürften vorrangig sozialer Natur gewesen sein, technische Rationalität hätte zur Durchsetzung des überlegenen Betaformats führen müssen.

Eine nachträgliche Mythenbildung verfremdet weiterhin die Vorstellungen über Maßnahmen, welche die technische Entwicklung tatsächlich vorangetrieben haben. Überraschendstes Beispiel ist die angeführte Analyse der Produktivitätssteigerung im Werk Henry Fords. Die Steigerung der Produktivität, die zwischen 1909 und 1916 stattfand, fand zu zwei Dritteln in der Zeit vor der Einführung des Fließbands statt.115 Ein modernerer, wenn auch uneindeutigerer Fall ist die Anbindung von Betrieben ans Internet. Erstinvestitionen in die Infrastruktur können beispielsweise abhängig davon, wie hoch man die Zeitersparnis durch Verwendung von Email ansetzt, abgeschrieben werden, eine tatsächliche Analyse der Zeitersparnisse oder des vermehrten Aufwands kann normalerweise nicht unter kontrollierten Bedingungen durchgeführt werden. Die Analyse der Computerisierung in den frühen 90ern läuft bezeichnenderweise nach Ortmann darauf hinaus, "`...dass die Diskussion [...] sich nicht darum dreht, ob, sondern nur, weshalb Produktivitätssteigerungen sich nicht nachweisen lassen..."'116. Ortmann wendet sich hier massiv gegen die Heilsversprechen einer von Beschränkungen befreiten Ökonomie, an dieser Stelle soll jedoch nur auf die Argumentation hingewiesen werden, dass selbst paradoxe oder den ökonomischen Planungen widersprechende oder ihnen zunächst entgegenarbeitenden Entwicklungen wieder dem Primat der Ökonomie untergeordnet werden können bzw. historisch in ihrer Bedeutung derart umgedeutet werden, dass sie eben jenen Primat nicht mehr in Frage stellen. Technische Entwicklung in ihrer Determiniertheit erweist sich so als kontingente soziale Konstruktion, welche ungeachtet tatsächlicher ,Rationalität' durchaus umgedeutet und reinterpretiert werden kann, wenn es der Durchsetzung bestimmter gesellschaftlicher Überzeugungen und Geschichtsinterpretationen dient.

Abschließend kann man feststellen, dass selbst Rammert durchaus zugibt, dass Herrschaftsverhältnisse die technische Entwicklung und die technische Durchsetzung der Gesellschaft maßgeblich mitprägen können. Einen typischen Fall eines solchen Durchschlagens von Herrschaft auf Technisierung in der Gesellschaft demonstriert er mit dem Beispiel der offensichtlichen Umsetzung patriarchaler Herrschaftsstrukturen bei dem in den 60ern und 70ern bevorzugten Erwerb von Autos anstelle von Waschmaschinen trotz der damit verbundenen finanziellen Mehrbelastung und des damals noch nicht derart selbstverständlichen Bedarfs am Automobil.117 Eine Verallgemeinerung auf das komplette Feld der Forschung sei jedoch nicht zulässig, dafür seien auch zu häufig typische Gegenbewegungen zu erkennen.118

Strasser und Traube stellten 1982 ebenfalls dar, dass Technik in ihrer ganzen Genese den Prinzipien der Gesellschaft verhaftet sei, in der sie geschaffen und betrieben wird. Nicht erst die letztendliche Verwertung ihrer Ergebnisse, sondern schon der Prozess ihrer Erforschung und Erfindung ist von den jeweiligen Gesellschaftsverhältnissen geprägt. Anders als Rammert ziehen sie daraus nicht den Schluss, dass die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Technik und Gesellschaft, respektive ihre gegenseitige Durchdringung, so weit fortgeschritten ist, dass keine einzelnen Interessensgruppen gezielten Einfluss auf die Technikgenese mehr haben könnten. Vielmehr schließen sie aus eben dieser engen Verkoppelung auf die Gültigkeit der gesellschaftlichen Herrschafts- und Kontrollmechanismen auch für das sukzessive durch Herrschaftseliten kolonialisierte Feld des technischen Fortschritts. Ihre Thesen sollen im Folgenden ausführlicher dargestellt werden.


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Richard Joos; 6. Februar 2002