Das Panopticon ist somit ein Idealtypus der von Foucault postulierten ,Disziplinargesellschaft', die in der Neuzeit immer subtiler, aber auch immer allumfassender und totaler wirkt. Dementsprechend sieht er das Panopticon als Methode nicht nur für die Gefängnisse, die Fabriken oder die Klöster voraus, sondern postuliert eine Adaption des panoptischen Prinzips auf sämtliche Gesellschaftsbereiche:
"`Das Panopticon liefert die Formel für diese Verallgemeinerung. Es programmiert auf der Ebene eines einfachen und leicht zu übertragenden Mechanismus das elementare Funktionieren einer von Disziplinarmaßnahmen völlig durchsetzten Gesellschaft."'224
Selbst das Opfer des Panoptismus wird zum Akteur in dieser Machtstruktur, die er mitträgt und durch die er seine Unterwerfung und Disziplinierung internalisiert:
"`Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt, er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung."'225
Nun wurde Foucault der Vorwurf gemacht, nicht nur zu ignorieren, dass niemals tatsächlich ein Panopticon gebaut wurde, sondern diese nichtexistente Reinform ohne weitere Bedenken auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen.
"`Von der Peripherie, wo alle `totalen Institutionen' entstehen, rückt der `Panoptismus', verallgemeinert und verwissenschaftlicht, in das Zentrum der Gesellschaft vor. Foucaults Fazit: Die Gefängnistore könnten eigentlich geöffnet werden, weil die `Disziplinargesellschaft' selber zum allumfassenden Gefängnis geworden ist. Wann und wie sich die Disziplinierungsmächte des Gefängnisses, der Klinik, des Militärs, der Fabrik zur Eroberung der Gesellschaft vereinigen können, bleibt historisch ebenso ungeklärt wie der übergang der Ausnahmedisziplin in ,totalen Institutionen' zur Veralltäglichung und Verbetrieblichung der generalisierten Disziplin."'226
Nun geht Foucault nicht von einer an Weber orientierten Begrifflichkeit von Macht als Verhältnis zwischen einem machtausübenden Subjekt und dem Objekt der Machtausübung aus, welches gegebenenfalls auch gegen seinen Willen und seine Interessen durch das machtausübende Subjekt zu Handlungen gezwungen wird. Ebenso wenig wird ihre Reduktion auf ,Unterdrückung' ihrem Wesen gerecht. Vielmehr ist Macht immer ein Kräfteverhältnis, in Abgrenzung zu der ,greifbaren', Subjekten eindeutig zuordenbaren Macht Webers, die in dieser reinen Form laut Foucault nicht existiere, da sie "`nicht gegeben wird, [...] weder getauscht noch zurückgenommen wird, sondern [...] ausgeübt wird und nur in actu existiert."'227 Macht mündet in ein Kräfteverhältnis ein, welches ständig ,ausgetragen' wird und sich im Handeln in der Gesellschaft permanent reproduziert. Wehler fasst dies zusammen, indem er von Gesellschaft als "`einem `Geflecht aus Machtbeziehungen'"' spricht: "`Es gibt kein dominantes politisches, ökonomisches, ideologisches Zentrum mehr. Macht strahlt polyzentrisch von vielfältigen Konstellationen und Beziehungen aus."'228
Dem panoptischen Prinzip folgend, ist die Gesellschaft somit durchdrungen von vielfältigen Strukturen der Machtausübung, in denen der Einzelne von verschiedensten Machtstrukturen in seinem Verhalten kontrolliert und diszipliniert wird, ohne jedoch konkrete Akteure seiner Disziplinierung ausmachen zu können. So ist das Panopticon der Idealtypus, die Reinform einer entpersonalisierten Macht, die in der Gesellschaft, in den Beziehungen ihrer Akteure untereinander, wirksam ist und deren konkrete Gestalter aus der Sichtbarkeit verschwinden. Wie in der architektonischen Lösung Benthams macht es in der gesellschaftlichen Umsetzung des Prinzips der Disziplinargesellschaft keinen Unterschied mehr, ob der - reale oder imaginierte - Kontrolleur noch anwesend ist, denn seine Machtausübung und seine gesamtgesellschaftliche Kontrollfunktion ist in den Strukturen der Gesellschaft und den prinzipiell denkbaren ,Sichtbarkeiten' mit angelegt.