next up previous contents
Next: 3 Panoptismus im Netz: Up: 1 Das Panopticon Previous: 1 Das Panopticon bei   Contents

2 Panoptismus in der Gesellschaft

Gesellschaftlich wirksam werden panoptische Strukturen auf zweierlei Weise. Einmal dadurch, dass im Alltagsleben die Überwachung jedes einzelnen ständig als möglich und potentiell sanktionierbar erscheint. Dieses Prinzip ist in jeder Gesellschaft dadurch schon gegeben, dass sich alle ihre Angehörigen Regeln und Normen unterwerfen, Einigkeit über gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweisen besteht etc. Die reine Anwesenheit anderer Personen führt direkt dazu, dass das individuelle Verhalten der Beobachtbarkeit und der damit impliziten Kritisier- und Sanktionierbarkeit angepasst wird.

Die Ausweitung dieses Prinzips, durch Videoüberwachung, Biometrie, der Kontrolle des Aufenthaltsorts am Arbeitsplatz, die mögliche Peilung über GMS-Handys etc. sind nicht Thema dieser Arbeit, es soll nur darauf hingewiesen werden, dass parallel zu den beschriebenen Möglichkeiten im virtuellen Raum auch eine Ausweitung panoptischer Strukturen in nichtvirtuellen Umgebungen stattfindet, die erste und elementarere Möglichkeit panoptischer Strukturen ebenfalls erweitert wird und es augenblicklich kein Gegengewicht zu den entsprechenden Trends in der Virtualität gibt, das den Privatheitsverlust in der virtuellen Welt möglicherweise ausgleichen oder relativieren könnte.

Die zweite Möglichkeit der Ausweitung panoptischer Strukturen ist die Etablierung neuer Kommunikationsstrukturen, welche einfacher als die bestehenden Sozialräume einer Überwachung unterworfen werden können. Eine Kontrolle des physischen Sozialraums stößt auf bestimmte Grenzen, wenngleich sie auch unbestreitbar stattfindet und ausgeweitet wird. In virtuellen Sozialräumen fällt diese physikalisch-materiell bedingte Schwelle weg, prinzipiell ist technisch das komplette überwachen von virtuellen Sozialräumen möglich (und findet üblicherweise statt, nur werden die entstehenden Daten gewöhnlich kurz- bis mittelfristig gelöscht, werden nicht, nur auf Antrag229 oder nur stichprobenartig ausgewertet und nicht mit anderen Datenquellen verknüpft). Weiterhin gibt es mit der Auskunftspflicht der Provider einerseits und der Möglichkeit der Verknüpfung von Surfprofilen mit Kundendaten beispielsweise bei Online-Shops andererseits neu entstehende Strukturen, die Kommunikationen aus der Anonymität herausheben. Während weiterhin das Verwenden biometrischer Systeme in der Öffentlichkeit gewöhnlich demokratisch legitimierten Institutionen vorbehalten bleibt, fallen Beschränkungen dieser Art im Netz weitgehend weg.

Die Durchsetzung des Panopticon als gesellschaftsstrukturierendes Prinzip scheiterte bisher an seiner Totalität, die seinen flächendeckenden Einsatz unmöglich machten. Das Panopticon funktioniert nur dann als Mittel zur Disziplinierung einer gesamten Gesellschaft, wenn sich der größte Teil - und nicht, wie bei Foucault meist angenommen, die devianten peripheren Gruppen - der Kontrolle durch panoptische Strukturen nicht entziehen kann. Niemand darf die Einbahnstraße durchbrechen. Aber es ist physikalisch nicht möglich, eine derart totale architektonische Struktur der Kontrolle zu einer Matrix zu machen, in der das physische Leben des größten Teils der Bevölkerung stattfindet, auch wenn die Möglichkeiten ständig anwachsen. Die Totalität wird nicht erreicht, der Aufwand einer kompletten Überwachung bleibt zu hoch. So ist es bisher schlicht unpraktikabel (und auch nicht unbedingt sinnvoll), ständig beispielsweise die Position eines Handys zu erfassen und zu protokollieren, vor allem, wenn man bedenkt, dass dieses ausgeschaltet werden kann etc.

Dies wird mit den Überwachungsformen, die das Netz bietet, anders. Im Panopticon der Benthamschen Vorstellung konnte aus der physisch-räumlichen Lage des Individuums die Möglichkeit der Überwachung direkt abgeleitet werden: es lokalisiert sich in einer dafür prädestinierten architektonischen Umgebung. Im Internet wird die Annahme einer solchen, Überwachung ermöglichenden Struktur in der Kommunikation mittels digitaler Medien weitaus abstrahierter und versteckter umgesetzt, und wirkt damit auch durchaus begünstigend auf das Entstehen einer paranoide Grundhaltung ein, die das Prinzip des Panoptismus primär erst wirksam werden lassen - man weiß nicht sicher, ob eine Überwachung stattfindet, oder möglich ist, (oder zwar möglich sei, jedoch aktuell nicht durchgeführt wird) und neigt dazu, vorsichtshalber vom Schlimmsten auszugehen. Diese Unsicherheit über Ausmaße und Möglichkeiten macht Bedenken dieser Form für nicht ausgewiesene Experten weiterhin schwerer thematisierbar. Indem Überwachungsprozesse in ihrer Potentialität für den einzelnen nicht mehr in der Wahrscheinlichkeit einschätzbar sind, setzt sich genau das Prinzip durch, das Foucault als maßgeblich für die Disziplinierung betrachtet: das Wissen über eine mögliche Kontrolle und das Unwissen über das tatsächlich stattfindende Ausmaß.

Mehr noch als bei Benthams panoptischen Strukturen, in denen ein Aufseher einige hundert Häftlinge, Arbeiter etc. beobachtete und einen dementsprechend kurzen Anteil an Aufmerksamkeit für den einzelnen aufbringen konnte, wird in der potentiellen Überwachbarkeit und Protokollierbarkeit des Netzes diese zu einer irreal erscheinenden Konstruktion, die aber öffentlich nie vollkommen belegbar oder widerlegbar werden kann. Die historische Wurzel des Panoptismus, der immer auf zumindest potentiell totalitären Institutionen beruhte, wird mit dem Internet zum ersten Mal auf ein Medium oder eine gesellschaftliche Kommunikationssphäre abgebildet, dass die Kategorie der Devianz der überwachten Individuen transzendiert; die prinzipiell jeden mit einschließt, der willens ist, das neue (und notwendige) Medium zu nutzen. So spricht Foucault vom

"`... Übergang vom Modell der Ausnahmedisziplin zu dem der verallgemeinerten Überwachung ... der fortschreitenden Ausweitung der Disziplinarsysteme ... ihre Vervielfältigung durch den gesamten Gesellschaftskörper hindurch, die Formierung einer Disziplinargesellschaft."'230

Der Panoptismus durchdringt von den Peripherien aus die Gesellschaft, indem er ein Mittel zur Disziplinierung von Devianz zu sein scheint. Er bleibt in den Zentren der Gesellschaft weitgehend unbemerkt, aber dies vor allem daher, weil seine Ausübung, sein Sichtbarwerden nur in Ausnahmefällen notwendig ist. Seine Präsenz wird aber nicht bestritten. In Bezug auf das Internet wird momentan die prinzipielle Sanktionierbarkeit jeglicher Kommunikation als gesellschaftliche Realität dargestellt. Das Umgehen dieser Möglichkeiten ist alles andere als trivial, hier sei nur darauf hingewiesen, dass die Möglichkeit der unzensierten Äußerung einerseits an technischer Kompetenz festgemacht und die Wahrnehmung dieser Inhalte angesichts der Dominanz kommerzieller Inhalte im Netz eher unwahrscheinlich ist.


next up previous contents
Next: 3 Panoptismus im Netz: Up: 1 Das Panopticon Previous: 1 Das Panopticon bei   Contents
Richard Joos; 6. Februar 2002