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5 Schlussbetrachtung

Die Soziologie beginnt sich auf vielfältige Weisen, dem Internet anzunehmen, und viele Ansätze werden sich hervorragend in die bestehenden soziologischen (Bindestrich-) Theorien einfügen. Vergesellschaftung von Onlinecommunities werden durchaus mit Mitteln von Gruppen- und Mikrosoziologie beobachtbar und analysierbar sein, die Beschleunigung von Kommunikation und entsprechende Veränderungen von Arbeitsabläufen und Organisationsstrukturen werden Eingang in die gängigen Organisationssoziologien bekommen. Ortmann wird feststellen müssen, dass der Computer in absehbarer Zeit durchaus auch als effizienzsteigerndes Instrument in den Bilanzen der Ökonomen auftauchen wird, auch wenn die Anlaufzeit länger als prognostiziert gedauert hat.

Ein Problem der Soziologie scheint die Fehleinschätzung der ,Reichweite' des Internet in der Theorie zu sein. So schreibt der Versuch Fuchs', dem WWW279 oder jener Steff Hubers, dem Usenet280 den Charakter eines gesellschaftlichen Subsystems im Sinne der Luhmannschen Systemtheorie zuzuschreiben, den Untersuchungsgegenständen eine zu umfassende Rolle zu, die Ergebnisse müssen als unangemessen und in der Größenordnung verfehlt betrachtet werden. Ebenso scheint die Einschätzung, das Internet als Schlüsseltechnik der nächsten industriellen Revolution, vergleichbar der Entwicklung der Dampfmaschine oder der Elektrizität, zu weit gegriffen zu sein.

In der entgegengesetzten Weise scheint es aber verkürzt, wenn analog zum Durchbruch des Fernsehens das Internet eben nur als weiteres Massenmedium begriffen wird. Die Enttäuschung Rillings darüber, dass das Netz nicht die Agora, sondern nur einen Marktplatz (und schlimmer noch, einen sexlastigen Marktplatz mit ausgedehntem angegliedertem Schwarzmarkt dazu) schaffe, erinnert an die enttäuschten Hoffnungen, die an die Fortbildung der Massen mit dem Aufkommen des Fernsehens mittels Telekolleg und ähnlichen Sendungen erhofft wurde, oder an die Hoffnung einer Stärkung kommunaler demokratischer Strukturen durch regionale Fernsehprogramme. Dass im Netz mehr erotische wie politische Inhalte stattfinden, ist in keiner Weise überraschend, dabei jedoch absolut kein Indiz dafür, dass das Netz keine demokratisierenden Potentiale besitzt.

Auf der anderen Seite stehen Positionen wie die Neil Postmans oder Clifford Stolls, welche die Ausbreitung des Internet vordringlich als einen weiteren Faktor begreift, der das Erleben von Primärerfahrungen in die Marginalisierung drängt und (folgendes nur bei Postman, Stoll argumentiert hier differenzierter) angesichts der Gefährdung des Fortbestands unseres kulturellen und sozialen Niveaus mögliche positive Effekte und Chancen geflissentlich systematisch ignoriert. Ebenso verkürzt sind Ansätze, die dem Netz ausschließlich die Verschärfung neoliberaler Verhältnisse unterstellen. Das Internet ist ein mächtiges Werkzeug, welches man natürlich beliebig missbrauchen kann, jedoch sind wenige der Probleme, die mit dem Internet aufkamen, in einem wie auch immer gearteten ,Wesen' des Internet angelegt, sondern beruhen auf kontingenten Entscheidungen.

Grundsätzlich ist die Frage nach der soziologischen Bedeutung des Internet diejenige nach der Reichweite, die das Netz besitzt. In welche gesellschaftlichen Strukturen greift das Netz ein, wo schafft es neue Sachverhalte und neue Handlungsstrukturen? In dieser Arbeit wurden zuvorderst die des Eigentums und die der Kontroll- und Überwachungsmöglichkeiten angeführt. Zugrundegelegt war die Annahme, dass diese die Schlüsselkategorien sind, in denen das Internet die Gesellschaft auf bisher noch nicht existierende Art und Weise verändert und weiterverändern wird. Diese Veränderungen reichen über das Medium Internet selbst hinaus: sie finden nicht nur in dem neu entstandenen Sozialraum Internet statt, sondern haben Effekte im Alltagsleben von auch im Netz nicht aktiven Menschen.

So zeigt das Netz exemplarisch auf, dass es so etwas wie eine ,neutrale' Umsetzung von technischen Entwicklungen nicht gibt. So scheint das Netz durchaus in beliebige Richtungen weiter entwickelbar, sein Potential, gesellschaftliche Kernkategorien in Frage zu stellen oder neu zu definieren, sind offensichtlich. Um so interessanter ist es, wie einerseits die Neuartigkeit und das daraus resultierende gesellschaftliche (und vor allem ökonomische) Potential des Netzes beschworen werden kann, gleichzeitig aber sowohl durch Politik als auch der Wirtschaft versucht wird, Kategorien des bisherigen öffentlichen Raums möglichst 1:1 auf das Netz abzubilden. Hier bietet die Technik durchaus verschiedenste Optionen, spätestens in der Phase der gesellschaftlichen Durchsetzung der neuen Technologie findet jedoch eine massive Anpassung an die Interessen von Herrschaftseliten statt. Der Schwerpunkt liegt hierbei durchaus bei den Wirtschaftseliten. Es ist weitaus einfacher und folgenloser, Akteure der Politik zu kritisieren oder gar zu verunglimpfen, als es bei der Markenkritik der Fall ist.281

Das Netz wirkt auf zweierlei Art und Weise auf das Verständnis und die ,Handhabung' von Eigentum ein. Es schafft zum einen die physikalisch prinzipielle Allverfügbarkeit existierender digitalisierbarere Produkte. Jegliche Knappheit liegt nicht mehr in der natürlichen Beschränktheit der Ressourcen und der Produktionskapazität begründet, sondern im Willen der Produzenten bezüglich der Art der Distribution und dem angestrebten Knappheitsgrades des Produkts. Die Verlagerung des Aufwands (materiell und zeitlich) weg von der Serienproduktion hin zum reinen Erstellen des ,Prototyps', der dann praktisch aufwandsfrei beliebig distribuiert werden kann, stellt bestehende Konzepte von Produktion, Verteilung und eben Knappheit in Frage. Auf der anderen Seite wird die Bestandsicherung und Durchsetzung der üblichen Eigentumsdefinitionen durch das Internet gestört. Gängige Definitionen wie der Ausschluss des Verfügens anderer über eigenen Besitz sind nicht mehr in dieser (vor Aufkommen des Internet in fast allen Bereichen schon allein physikalisch begründeten) Selbstverständlichkeit gegeben. Wohl gab es schon immer Verstöße gegen Urheberrecht und geistiges Eigentum, jedoch war die Abhängigkeit von materiellen Ressourcen nie so klein wie heute. Für Medikamente beispielsweise ist neben der Darstellung der Synthese auch die entsprechende Syntheseapparatur mitsamt der Grundstoffe notwendig, für digitale Daten gilt, dass schlicht das Medium und eine ausreichende Rechnerleistung zusammen mit einer realistisch nutzbaren Datentransferrate vorhanden sein muss.

Es handelt sich hier nicht um eine Abbildung einer bekannten Problematik auf eine neue Technologie, da der Rechner mehr und mehr den Charakter einer Universalmaschine annimmt: die Syntheseanlage zur Kunstdüngerherstellung ist für die Herstellung von Aidsmedikamenten sinnlos, der Rechner jedoch kann zur Distribution medizinischen Fachwissens ebenso genutzt werden wie zur Datenerfassung im Auftrag eines europäischen Telekommunikationskonzerns, zur Gehaltsabrechnung einer amerikanischen Airline oder zum Quake3Arena-spielen. Die benötigten Ressourcen sind neben der Rechnerleistung die Kompetenz der bedienenden Nutzer und die Verfügbarkeit der benötigten Algorithmen. Mit dem Rechner besitzt man die Grundvoraussetzung zur Schaffung und zur Konsumption verschiedener Güter, er kann Arbeitsgerät und Freizeitbeschäftigung sein. Die jeweils benötigten Medien und Plug-Ins, die aus einem Rechner eine Schreibmaschine, ein Musikinstrument, einen Filmbetrachter machen, stehen seit und mit dem Internet prinzipiell zum Nulltarif zur Verfügung, eine Knappheit, die existiert und wirksam wird, muss aktiv herbeigeführt werden.

Dem wird begegnet mit einer Ausweitung der Möglichkeiten, Verfahren, Informationen und Algorithmen einer immer weiter ausgedehnten Besitzfähigkeit und Inwertsetzung zu unterwerfen. Bevor das neue Medium einen umfassenden Pool von Information einem bedeutenden Teil der Weltbevölkerung zur Verfügung stellt, wird dieser Pool aufgeteilt und in Besitzform überführt. Was auf dem Netz distribuiert werden kann, wird vereinnahmt, bevor eine Kollektivierung stattfinden könnte. Dieser Prozess wirkt auch außerhalb des Internet fort: die Sphäre dessen, was besessen werden kann, weitet sich kontinuierlich aus. Bezogen auf das Netz, welches für jeden, der sich dort zu Wort meldet, umfassende Sichtbarkeit herstellt, wird die Möglichkeit, der Allgemeinheit Wissen, Information, Daten im weitesten Sinne zur Verfügung zu stellen, erschwert. Auch hier gilt, was in Bezug auf eine mögliche Überwachung und der daraus resultierenden Selbstzensur dargestellt wurde: Relevant ist nicht der tatsächliche Umfang der Überwachung, sondern ihre prinzipielle Möglichkeit und die Unwissenheit über das tatsächliche Stattfinden. Ebensowenig ist es für den Einzelnen oft möglich, festzustellen, ob er mit eigenen Erkenntnissen und Entwicklungen Eigentumsrechte Dritter verletzt. Es besteht hier die Gefahr, dass aus schlichter Sorge um mögliche Verfolgung die Entwicklung beispielsweise von Algorithmen für die Allgemeinheit durch eine wirksame Selbstzensur aus Angst vor Verletzung bestehender Besitzverhältnisse immer weiter eingedämmt wird.

Dies ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Dadurch, dass das Internet diese Knappheit existierender digitaler Daten faktisch abschafft (oder zumindest von einer kontinuierlich anwachsenden Übertragungsbandbreite abhängig macht), werden neue Verfahren der Kontrolle über die Distribution künstlich knapper digitalisierbarer Güter notwendig. Da digitale Daten prinzipiell immer gleich aussehen (man sieht es den Einsen und Nullen, oder einige Ebenen höher, den TCP-Datenpaketen nicht an, ob sie Stücke einer privaten Email, Teile des Codes vom MS Office XP oder die Sounddaten einer Webradioausstrahlung enthalten), ist eine Entscheidung über Netzkontrolle immer eine über Privatsphäre und Öffentlichkeit, dem Recht, sich frei zu äußern und der Unschuldsvermutung, die durch präventive Kontrolle des Netztraffics faktisch außer Kraft gesetzt wird. Hier werden aktuell die Weichen gestellt, ob in erster Linie die Interessen von Verfechtern einer immer weiteren Ausweitung der Sphäre des Eigentums und des Handels umgesetzt werden oder die Interessen der Nutzer, ihre Rechte auf Privatsphäre und die bereits angeführten Rechte, Erkenntnisse zu verschenken berücksichtigt werden.

Das Netz verändert hier in großem Stil selbstverständlich scheinende Prinzipien der physischen Welt. Es ist naiv anzunehmen, dass dies als naturgemäßes Wesen des Netzes hingenommen wird, im Gegenteil: die Kolonialisierung des Netzes durch althergebrachte Machteliten ist im vollen Gange. Es besteht die Gefahr, dass dieser Blickwinkel auf das Netz so lange von der Sozialwissenschaft ignoriert wird, bis tatsächlich die Unterschiede zu den herrschenden Strukturen jenseits der Virtualität verwischt sind. Die Kriminalisierung jener, die sich gegen diesen Kolonialisierungsprozess wehren, ist in vollem Gang. Die Aufklärung der Öffentlichkeit über Chancen und Möglichkeiten des Internet liegt gerade vordringlich in der Hand der Medienkonzerne; einer Interessensgruppe, die gewöhnlich nicht durch ihr außerordentliches Engagement für die informationelle Selbstbestimmung der BürgerInnen, durch Forderungen nach Entkapitalisierung von Information oder dem Betonen der Notwendigkeit des freien Flusses der Daten auffällt. Die Sozialwissenschaften laufen Gefahr, im Einpassen des Internet in Theorieschulen oder bei einer Fortsetzung der Medienwirkungsforschung stehen zu bleiben und die Möglichkeiten des Internet, die Umwälzungsprozesse, die es impliziert, der Industrie und der Politik, der Technik und den Juristen zu überlassen. Hier wird ein Bild kultiviert, welches einerseits die Partizipation an Märkten, Sozialräumen und Informationsquellen propagiert, die Demokratisierung durch den Netzzugang einerseits preist und andererseits die Exklusivität und die verbundene Privilegierung herausstellt. Auf der anderen Seite werden Gefahren und Bedrohungen beschworen, welche die Möglichkeiten des Netzes zu seinen Fehlern und ungelösten Problemen umdeuten. Stattdessen sollte das Augenmerk auf die Veränderungen gerichtet werden: Wenn es offenbar Bestrebungen gibt, das Netz schnellstmöglich den Gesetzen und Strukturen der nichtvirtuellen Welt zu unterwerfen, wäre es für die Soziologie interessant zu hinterfragen, was denn wäre, wenn manche dieser Maßnahmen als obsolet betrachtet werden würden.

"`Das Internet ist das einzige Instrument der freien Rede, das in Zukunft eine Rolle spielen wird. In den kommenden Monaten wird entschieden, ob es dabei bleibt. Schon im Jahr 2000 ging es Schlag auf Schlag: In Großbritannien kann man mittlerweile ins Gefängnis wandern, wenn man Daten verschlüsselt und auf polizeiliche Anforderung nicht wieder entschlüsseln kann. In Deutschland werden Provider für Nazi-Inhalte zur Rechenschaft gezogen, und findige Anwälte machen Jagd auf Privatleute, die Links auf die falschen Websites setzen. [...] Noch immer hat kaum mehr als ein Viertel der Bevölkerung hierzulande überhaupt einen Zugang zum Netz. Die Generation jedoch, die jetzt heranwächst, wird mit den Gesetzen leben müssen, die gegen diese Minderheit erlassen werden."'282

so schrieb Erik Möller in der taz. Es besteht durchaus die Gefahr, dass während dieser Veränderungen der Großteil der Energie der Sozialwissenschaften auf das Auswerten von Bannerklickraten und der Effizienz zielgruppenorientierter Opt-In-Emailwerbung konzentriert bleibt.


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Richard Joos; 6. Februar 2002