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3 Die Disziplinargesellschaft und ihre Kontrollfunktion

Überwachung geschieht nicht nur im Kontext der Überwachung durch die Bedrohung von außen, dem eigentlichen, verfassungsgemäßen Auftrag von Geheimdiensten, sondern immer auch gegen etwaige GegnerInnen, Unruhestifter und Unzufriedenen im Innern des Staates. Die Überwachung des Privat- und Alltagslebens stößt in der stofflichen Welt jedoch an natürliche Grenzen: das System, in dem alle nur damit beschäftigt sind, die anderen zu überwachen, ist das Phantasieprodukt eines Paranoikers. Die Realität scheitert früher, so war eine Spitzenleistung das Verhältnis in der DDR, welches mit der Quote eines Stasiagenten auf 200 Einwohner die Gestapo mit 1 zu 10 000 deutlich schlug.270 In diesem Kontext sind Prozesse, die den Schlüssel von Üerwachern zu überwachten senken können, ohne die Effizienz mitzusenken, von hoher Bedeutung. Es ist potentiell möglich, auch ohne eine entsprechend hohe Durchdringung der Bevölkerung mit ÜberwacherInnen, an totalitäre Strukturen angelehnte Sieb - und Filtermechanismen in die Regeln und Mechanismen des sozialen Auf- oder Abstiegs einzubauen. Für die letztendliche Umsetzung ist weniger relevant, was aktuell gängige Praxis ist, sondern auch hier gilt das panoptische Prinzip der bloßen Möglichkeit: handlungsrelevant für den einzelnen ist, was er befürchten oder erwarten kann, und erwartbar ist einerseits alles, was technisch realisierbar ist oder in der Zeit, in der Daten archiviert bleiben, technisch erwartbar sein könnte. Wie in der Folge sanktioniert werden kann, zeigen in einem vergleichsweise milderen Kontext die Beispiele der Berufsverbote in der BRD der 60er, die Ära des McCarthyismus in den USA, die Relevanz der parteilichen Opportunität in der DDR deutlich auf, was machbar ist, als ein extremes Beispiel dagegen sei die aus den unterschiedlichen Datensammlungspraxen resultierende unterschiedliche Effizienz der Judenvernichtung im Dänemark und Norwegen des Dritten Reiches angeführt. Immer größere Bereiche unseres Lebens, unseres Handelns, unserer Kommunikation werden digitalisiert, in der Folge archivierbar, in actu oder noch Jahre später recherchierbar, elektronisch durchsuchbar und beliebig komplexen Algorithmen der Komprimierung und Verknüpfung unterwerfbar. Es soll an dieser Stelle nochmals betont werden, dass es eben nicht um augenblicklich realisierbare Praxen geht, sondern um diese, denen die heute angelegten Logfiles der Provider und der Netzadministratoren theoretisch irgendwann in der näheren Zukunft unterworfen werden können. Bei einer angenommenen Fortsetzung des Mooreschen Gesetzes271, welches die Verdoppelung der Rechenleistung bei gleichzeitiger Halbierung der Halbleiterstrukturen im achtzehn-Monate-Rhythmus seit den siebziger Jahren zutreffend voraussagt, kann man davon ausgehen, dass eine mehr oder minder zentrale Auswertung der anfallenden Datenströme und -archive kein Problem der technischen Realisierbarkeit, sondern eine solche des politischen Willens sein wird.

Während die Datensammler die gewonnenen Vorteile direkt verwerten können, ist ein solcher Vorteil beim Einsatz von Filterprogrammen nicht in dieser Form sichtbar. Bisher bestehende Filter- und Zensurmaßnahmen können momentan noch unterlaufen werden, eine praktikable Möglichkeit der technische Umsetzung einer tatsächlich wirksamen, umfassenden Netzzensur lässt noch auf sich warten. Wenn man bedenkt, dass keine der Filterlösungen das leistet, was sie eigentlich erreichen soll, nimmt es Wunder, dass dennoch derart vehement auf den Einsatz einer nachweislich augenblicklich noch weitgehend wirkungslosen Technik gepocht wird. Martin Rost stellte in der Debate-Mailingliste der fitug die These auf, dass nicht die Wirksamkeit der Filter, sondern die Möglichkeit, ihren Einsatz trotz fehlender technischer Funktionalität durchzusetzen, die eigentlich angestrebte Machtdemonstration ist. Es geht weniger darum, tatsächlich Inhalte zu kontrollieren, sondern darum, sich einen Anschein von Macht zu erhalten, der sich gegen die anarchische Struktur des Internet durchsetzen kann; weiterhin auf der Faktenebene den Anspruch zu wahren, das Internet juristisch kontrollieren zu können. Die oft beschworene Formel "`was offline Unrecht ist, muss auch online Unrecht sein"' demonstriert so neben dem Fehlen technischen Verständnisses auch das Nichteingestehen der Existenz von Räumen im Internet, die legitimerweise nicht der jeweiligen Jurisdiktion unterworfen werden können.


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Richard Joos; 6. Februar 2002